Ja, ja. Schon klar. Die richtig gute italienische Küche gibt es nur in Italien und dort auch nicht in den Sternerestaurants, sondern bei Mamma. Ganz bestimmt gibt es sie nicht in einer Einkaufspassage in China. – So oder so ähnlich höre ich zumindest schon die Unkenrufe hinsichtlich meines törichten Versuchs, bei einem Italiener in Hongkong nach gutem Essen zu suchen.
Aber warum eigentlich nicht? Die italienische Küche ist eine der am häufigsten exportierten Länderküchen der Welt. Jeder (außer mir) hat irgendwo seinen Lieblingsitaliener. Außerdem reden wir hier immerhin über das einzige italienische Restaurant außerhalb Italiens, über dem drei Michelin-Sterne leuchten. Geführt wird es von Umberto Bombana, einem gebürtigen Norditaliener, der sich mit Restaurants in Hongkong, Shanghai, Peking und bald auch in Macau fernab von seiner Heimat einen Namen gemacht hat.
Nach einigem Suchen in den Shoppinglabyrinthen der Hongkonger Einkaufspassagen führt mich an diesem Freitagabend eine Rolltreppe direkt vor den Eingang des Otto e Mezzo, dessen Name eine Hommage an Bombanas gleichnamigen Lieblingsfilm ist. In Federico Fellinis Klassiker aus dem Jahr 1963 befindet sich Guido, der Protagonist – und gleichzeitig das autobiografische Alter Ego des Regisseurs –, in einer Schaffenskrise. Guido ist verzweifelt, uninspiriert und verwirrt, flüchtet sich in Tagträume und scheitert schließlich mit seinem Filmprojekt. Doch das Finale des Films bleibt optimistisch und lebensbejahend: alle wichtigen Menschen aus dem Leben des Regisseurs tauchen plötzlich auf, tanzen und feiern, und der Regisseur findet Sinn – in seinem eigenen Sein und im Leben an sich. Der Weg ist das Ziel. Oder, wie Guido es später sagt:
„Das Leben ist ein Fest, lass es uns gemeinsam erleben. Ich kann dir nichts anderes sagen, Luisa, weder dir noch den Anderen.“
Der Film ist zweifellos großes Kino, doch als ich durch die Türen des Otto e Mezzo hindurchgehe, werde ich nachdenklich. Ist das Restaurant etwa das imaginäre Filmset Bombanas? Sind die Angestellten die Schauspieler und wir Gäste die Komparsen? Spiegelt sich in den Gerichten gar eine Schaffenskrise des Küchenchefs wider, und verlassen wir später unverrichteter Dinge wieder das Set, während Bombana in der Küche mit Champagner und seinen Liebsten auf la dolce vita anstößt?
Klappe, die erste.
Ein Speisesaal mit schwarzweißem Teppichboden und Spiegeln an der Decke. Gedämpftes Licht strahlt auf weiße Tischtücher, Sitzbänke und Stühle. In der Mitte des Saals eine Anrichte aus Edelstahl mit Gläsern und Karaffen. Elegant gekleidete Kellner bewegen sich scheinbar lautlos durch den Saal, es herrscht ein gedämpfter, aber angeregter Geräuschpegel.
Es ist ziemlich gemütlich hier. Das könnte durchaus eine gute Kulisse für ein kulinarisches Fest sein. Mein Tisch ist bereits mit Serviette, Gläsern, Essig und Öl eingedeckt.
What kind of oil is this?
This is olive oil.
Ah, danke, ich dachte schon, es sei Motoröl. Aber gut, vielleicht habe ich meine Frage falsch gestellt. Eigentlich hätte mich nämlich die Herkunft des Olivenöls interessiert. Mea culpa. Aber das Öl ist gut, das Brot ebenso, und bei einem Glas offenen Weißweins (Erzeuger nicht notiert) entscheide ich mich für ein paar Gänge à la carte. Die Speisekarte liest sich wundervoll unkompliziert; leichte und herzhafte Gerichte zieren die wenigen Seiten. Die Vor- und Hauptspeisen liegen preislich zwischen ca. 27 und 55 Euro.
Ein KELLNER serviert ein farbenfrohes kleines Gericht in einem großen, tiefen Teller.
This is Beetroot with burrata. Please enjoy.
Dieser Auftakt, den ich mit der dazu servierten Gabel etwas mühevoll verspeise, ist recht nichtssagend. Erstaunlich, wie man aus so viel Bete so wenig Geschmack herausbekommt. Aber sei es drum, es kann nur besser werden!
Mit so viel Optimismus bewaffnet, blicke ich dem ersten Gang entgegen.
Ein KELLNER bringt einen Glasteller an den Tisch von JULIEN. Darauf befinden sich fünf identisch anmutende Kleinigkeiten, die in der Symmetrie von fünf Würfelaugen in der Tellermitte angerichtet sind.
This is our Roast Octopus and Roast Artichoke served with greens and a lemon oregano dressing. Please enjoy.
Thank you!
Italienisch schlicht liegt das Gericht auf einem Glasteller vor mir. Die Oktopusstücke sind verführerisch braun angebraten, die Artischocken sehen etwas mickrig aus, aber am Gaumen fügt sich alles wohltuend zusammen. Der Oktopus ist so zart wie sonst nur bei Japanern, und die Artischocken sind auf den Punkt gegart. Würzig, zart, einfach und gut. Sehr gut sogar. Aber was diese beiden Teller bisher mit einem Restaurant zu tun haben sollen, das zu den derzeit knapp über 100 besten der Welt zählen soll, ist mir schleierhaft.
Der Service ist indes hervorragend. Charmant, nicht zu distanziert, dennoch professionell, und auch der Sommelier kommt immer wieder mit einer guten Empfehlung aus den offenen Positionen (zwei, drei Gläser reichen mir heute Abend). Ich lasse ihm freie Hand.
Ein KELLNER kommt mit einem weißen, tiefen Teller an JULIENs Tisch. Darin ein herzhaft anmutendes Nudelgericht. Transparenter, aromatischer Dampf steigt davon empor.
This is Parpadelle with a lamb and mushroom ragout and fresh rosemary. Enjoy!
Der Duft ist betörend. Leichte Rosmarinaromen vermengen sich mit dem herzhaften Aroma des geschmorten Lammfleischs, dazu die erdige Noten von Pilzen. Am Gaumen beeindruckt die Pasta durch einen hauchdünnen Teig, dessen perfekter, leicht bissfester Garpunkt offenbar auf die Millisekunde genau getimt ist. Das aromatische, zarte Ragout dazu ergibt ein rundum perfektes Pastagericht, das glücklich macht.
Wenn ich dürfte, schleckte ich den Teller mit der Zunge blank, aber hier muss der Löffel reichen.
Did you enjoy the dish?
It was excellent, thank you!
Prego!
Ich bin bisher eigentlich rundum zufrieden. Die Atmosphäre ist behaglich, der Service nett und kompetent, und die Speisen sind so gut wie man sie sich von einem guten Italiener eben wünschen würde. Mehr aber auch nicht.
Mit etwas (erbetener) Pause geht es weiter mit dem Hauptgang.
Ein weiterer KELLNER platziert ein Schälchen mit einem Tomatensalat mit Oregano auf den Tisch.
Etwas perplex starre ich auf die mindestens sechshundert Kubikzentimeter frittierten Fleischlappens. Das soll ich alles essen? Und tatsächlich, der Kellner schneidet das Schnitzel in vier Teile, verteilt sie auf einem Glasteller und lädt die Portion vor mir ab. Er stellt auch noch eine Portion Zahnstocher auf den Tisch. Offenbar zur Sicherheit, denn dreiundzwanzig Stück sind dort bereits in einem anderen Schälchen. Ich habe gerade nachgezählt. Es scheint anstrengend zu werden.
This is our veal chop “Milanese style” served with a tomato salad and potatoes. Please enjoy.
Kartoffeln gibt es auch noch dazu, mamma mia! Mit meinem Besteck bewaffnet suche ich nach etwas Orientierung in dem Schnitzelhaufen. Gute Schnitzel haben luftig-leichte, krosse Panaden; diese hier ist dröge und fühlt sich am Gaumen an wie Schmirgelpapier. Das Fleisch darin ist trocken und zäh. Ein paar Tomaten aus dem Schälchen sowie ein beherzter Schluck Wein schaffen Linderung.
Mithilfe von ein, zwei weiteren Bissen probiere ich, ob sich in dem Panadehaufen doch noch Großartigkeit irgendwo versteckt, entscheide dann aber rasch, dass das Gericht ungenießbar ist.
Ich lege das Besteck auf „zwanzig nach vier“, lehne mich zurück und genieße die gemütliche Atmosphäre, während ich abwarte, was als nächstes passiert.
(höflich, aber bestimmt)
I am really sorry. This is not to my taste at all. I didn’t know it was deep-fried in the first place. Maybe my fault, however, the meat is dry and, to be honest, this is a very boring dish. Sorry.
(besorgt)
No, I am sorry, I will talk to the chef. Would you like us to prepare a new one? Or would you …
No, thank you, I’m really fine. I think I will just go for a dessert.
You’re sure?
Yes, thanks. I’m fine.
Eigentlich wäre das der Moment, in dem der Küchenchef zum Gast kommt und fragt, was passiert sei. Dieser Kalbsschnitzel ist immerhin eine Spezialität des Hauses, und Gerichte gehen sicherlich selten in die Küche zurück. Doch es kommt niemand. Ist mir auch recht.
Mein Appetit ist nicht mehr allzu groß, ein Dessert wird die kleine Lücke noch stopfen. Ich entscheide mich für ein Tiramisu; so etwas habe ich lange nicht mehr gegessen. Wo auch? So etwas ist Vertrauenssache. Und, ja, Vertrauen habe ich nach wie vor in dieses Restaurant.
Das Tiramisu ist sehr gut. Nicht großartig, aber es hat alle positive Eigenschaften, die man dieser sahnigen Süßspeise vermutlich entlocken kann. Ich nehme noch einen Caffè und bestelle die Rechnung, auf der – erwartungsgemäß – das Schnitzel nicht auftaucht.
Ich bin guter Dinge. Aber das Essen war verwirrend. Italien, Hongkong, Schnitzel, drei Sterne … Doch ich bin glücklich. Ich reise, ich genieße, das temporäre Scheitern bei der Suche nach noch mehr Genuss ist irrelevant. Es überwiegen Freude und Erfahrungen und Eindrücke.
Life is a party, let’s live it together. I can’t say anything else, to you or others.
Informationen zu diesem Besuch | ||
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Restaurant: | 8½ Otto e Mezzo Bombana (→ Website) | |
Chef de Cuisine: | Keith Yam Ka Lok | |
Ort: | Hongkong, China | |
Datum dieses Besuchs: | 03.04.2015 | |
Guide Michelin (HK/MAC 2015): | *** | |
Meine Bewertung dieses Essens (?): |